Leseprobe
Leseprobe
RuschSZ1_

Leseprobe “Erbenscharade”; Gmeiner-Verlag; Februar 2015

Teil 1 - Schatten aus der Vergangenheit

29. Juli bis 07. August 2013

°°°

1 - Infiziert

Bremerhaven – Montag, der 29.07.2013 – 21.45 Uhr

“Kommen Sie nach Weddewarden; zum Stichkanal hinter Containerterminal IV.” Dietrich Meyers wechselte das Handy in die linke Hand, um mit der anderen das Fernglas an die Augen zu heben. Die beiden Männer, denen er folgte, wanderten seelenruhig auf der Deichkrone nordwärts.

“Jetzt sofort?”, kam die Gegenfrage aus dem Telefon.

“Na klar! Wann sind Sie hier?”

“Eine halbe Stunde wird’s schon dauern.”

Meyers nahm das Fernglas wieder herunter und schaute auf die Uhr. Das wäre Viertel nach zehn – im Schutz der Dämmerung dürfte er dann auch kaum unliebsame Beobachter fürchten. “Okay. Holen Sie mich an der nördlichen Einfahrt des Stichkanals ab.”

“Verstanden.”

Zufrieden beendete Meyers das Gespräch und steckte das Handy ein. Die Männer weiter vorn schlenderten noch immer nach Norden. Um sie wirklich im Auge zu behalten, musste er ihnen folgen. Meyers trudelte den Hang zur Straße am Deichfuß hinunter und nahm die Verfolgung auf.

°°°

Die Unterhaltung der zwei Männer schien beendet – sie umarmten einander und trennten sich. Der ältere lief zurück in Richtung der Häuser von Bremerhaven-Weddewarden, bog an der nächsten Ecke links ab und verschwand so aus Meyers Blickfeld. Der andere, auf den er es abgesehen hatte, war oben auf dem Deich stehen geblieben. Besser hätte es kaum kommen können. Meyers trat aus seinem Versteck und hastete von der Straße auf die Deichkrone hinauf.

“Na, schnappen Sie nach dem anstrengenden Tag noch ein wenig frische Seeluft?”

Der zurückgebliebene Horst Alisch, vielleicht zehn Meter entfernt, fuhr herum und erstarrte augenblicklich in der Bewegung, als er sein Gegenüber erblickte. Alisch’ blasses Gesicht leuchtete in der Dämmerung wie der Vollmond.

Horst Alisch arbeitete in der Stralsunder Außenstelle des Vereins ‘Wider dem Artensterben’, kurz WdA genannt. Heute war er zu einer Besprechung in die Zentrale nach Bremen gebeten worden. Da für morgen noch ein weiterer Termin angesetzt worden war, hatte Alisch in einem kleinen Hotel unweit des Weserstadions Quartier bezogen. Als er dort gegen sieben weggefahren war, hatte Meyers sich an seine Fersen geheftet und war ihm hierher nach Bremerhaven-Weddewarden gefolgt.

Drei Wochen zuvor, Alisch hatte Unterlagen des Vereins von Bremen nach Stralsund transportiert, war ihm eine vertrauliche E-Mail zur geplanten Operation Humboldt in die Hände gefallen, die ein kritischer Mitarbeiter wie Alisch niemals hätte sehen dürfen. Um die Folgen abschätzen zu können, hatte Meyers den Mann beobachten lassen. Nach dessen heutigem Treffen mit Karl Ebeling war der Zeitpunkt des Handelns gekommen.

“Was ist? Hat’s Ihnen die Sprache verschlagen?”, hakte Meyers nach.

“Nein, nein.” Alisch kam heran und zwang sich ein Lächeln ab. “Ich war nur erschrocken, wie in meinem Rücken jemand hier hochrannte, … und dann stehen Sie vor mir.”

Mit einem Seitenblick bemerkte Meyers die Motorjacht Lucky Star auf der Weser. An Alisch gewandt, erklärte er möglichst gelassen: “Sie haben gerade einen guten alten Bekannten getroffen? Karl Ebeling ist doch ein guter alter Bekannter von Ihnen?”

Alisch traf der zweite Schock – jetzt wohl noch heftiger als vorhin. “Sie kennen ihn?”

“Flüchtig, von früher, als Spionage-Ass des DDR-Regimes”, entgegnete Meyers und führte sofort den nächsten Schlag: “Ich dachte immer, Ebeling lebt in Russland?”

“Ja, das stimmt.” Alisch schien wieder etwas Oberwasser zu bekommen. “Karl verbringt gerade ein paar Tage Urlaub in Deutschland.”

“Und bei der Gelegenheit trifft man sich unter altenFreunden?”

“Äh, ja.”

Nachdem Alisch die verdammte Mail gefunden hatte, hatte er zwei Freunde aufgesucht und mit ihnen gesprochen. Worüber, das hatte Meyers nicht feststellen können; die beiden Kumpel durch die Mangel zu drehen, war nicht infrage gekommen – der Schaden in dieser Affäre wäre nur noch größer geworden. In den folgenden zwei Wochen hatte Alisch sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen, hatte kaum ein Wort geredet und einfach schweigend seine Arbeit erledigt. Jetzt wusste Meyers auch, warum: Der Kerl hatte auf die Begegnung mit Ebeling gewartet. Dass der letzte Chef der DDR-Militraufklärung hier auftauchte, hatte Meyers heute Abend überrascht. Damit hatte Alisch dem WdA einen dicken Knüppel zwischen die Beine geworfen. Um den Profi-Schnffler würde Meyers sich in den nächsten Tagen kümmern – heute war erst einmal Alisch an der Reihe.

“Lassen wir doch die alten Geschichten.” Meyers fasste seinen Kollegen jovial um die Schulter und zog ihn in Richtung Weser. “Da vorn liegt ein kleines Schiffchen, mit dem wir gemütlich nach Bremen zurückdampfen.”

“Aber mein Auto steht auf dem Parkplatz des Ausflugslokals am Ende des Deichs.”

“Kein Problem, das holt ein Mann vom Wachdienst ab. Nein, wir sollten die Zeit nutzen, um ein wenig zu plaudern.

Vielleicht tauschen wir Histörchen über unseren gemeinsamen Kumpel Ebeling aus – wie’s ihm so geht, was er treibt … und so weiter. Ich habe da auch noch eine technische Frage, bei der ich Ihr Know-how als Fischereiexperte benötige.”

“Was wollen Sie da wissen?”

“Erkläre ich Ihnen unterwegs.”

Meyers ließ Alisch’ Schulter los und beide liefen in Richtung Lucky Star, die an einer günstigen Stelle angelandet war. Victor Jüttner, der enge Vertraute der Chefin, leitete die Geschäftsstelle des WdA in Stralsund und war mit Alisch nach Bremen gekommen, half ihnen beim Aufsteigen.

“Wir gehen runter in die Kabine”, erklärte Meyers, schob Alisch weiter und begrüßte kurz den schweigsamen Mann im Ruderstand. An Jüttner gewandt, fragte er: “Alles vorbereitet?”

“Ja. Die Kühlbox steht unten.”

“Die niemand geöffnet hat!”

“Nein. Wir haben uns strikt an alle Anweisungen gehalten. Die Siegel sind unverletzt.”

Meyers beugte den Oberkörper in Richtung Jüttner und flüsterte: “Die Überwachungskamera läuft?”

“Ich schalte sie sofort ein.”

Meyers nickte. “Wir können ablegen.” Er stieg in die Kabine hinunter. Wie ein versetzter Liebhaber stand Alisch in der Mitte des Raumes.

“Bitte setzen Sie sich doch”, schlug Meyers jovial vor. “Ist ja richtig gemütlich hier drinnen. Sogar eine Nasszelle gibt’s. Ich wusste gar nicht, dass der WdA solch eine schmucke Jacht sein Eigen nennt.”

Alisch nahm am kleinen Clubtisch auf der rechten Seite Platz.

Entsprechend der Vorgabe stand die Kühlbox am Kopfende des Bettes, das beinahe die gesamte linke Seite der Kammer einnahm. Meyers befiel eine dumpfe Nervosität. Es kostete ihn eine enorme Kraftanstrengung, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken und der Stimme einen festen Ton zu geben. Er hob die Kühlbox hoch. “Erledigen wir zuerst das Geschäftliche, bevor wir ein Bierchen trinken und über unseren gemeinsamen Freund plaudern.”

Jetzt folgte der gefährlichste Stunt seines Lebens. Leider musste er auf Schutzmaßnahmen verzichten, um Alisch nicht zu beunruhigen. Meyers stellte die Kühlbox neben den Clubtisch und trat einen halben Schritt zurück. Mit einem Sprung zur Seite konnte er notfalls hinter der Plexiglasscheibe Schutz suchen, die eine winzige Küchenzeile vom restlichen Wohnraum abgrenzte.
..
.