Leseprobe
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Leseprobe “Gekapert”; Gmeiner-Verlag; Februar 2013

1 - Angepirscht

Kiel - Freitag, der 08.10.2010 - 18.25 Uhr

Lastwagen auf Lastwagen rollt auf das Fahrzeugdeck der Lisco Gloria. Einweiser dirigieren die Vierzigtonner zu ihren Stellplätzen. Nur Zentimeter voneinander getrennt parken sie Heckklappe an Windschutzscheibe, Bordwand an Bordwand, in Dreierreihen nebeneinander.

In einer Nische auf dem Oberdeck steht ein Mann und beobachtet das Rangieren der Brummis. Ab und zu wirft er einen Blick in seine Kollegmappe, konzentriert sich aber sofort wieder auf die Lastzüge - so, als erwarte er einen bestimmten. Lärm und Dieselabgase scheinen ihm Unbehagen zu bereiten; immer wieder wendet er sich ab, um kurz darauf neuerlich Ausschau zu halten. Plötzlich merkt er auf, blättert in seinen Unterlagen und läuft schließlich in Richtung eines Lasters, der gerade an der Backbordseite des Fahrzeugdecks zum Stehen kommt. Schnell schließen rechts und dahinter andere auf. Schon klettert der Fahrer aus der Kabine, und die Besatzungsangehörigen beginnen mit dem Verzurren des Brummis, während der Mann aus der Nische herankommt.

“Ich bin Ludger Rotgerber, von der SSK, der Stralsunder Sicherheitsdienst und Kurierfahrten GmbH. Sie haben sechs Kisten Medizintechnik geladen?”

“Sie überwachen den Transport?”, fragt der Fahrer.

“Ja. Ich wollte die Fracht schnellstmöglich übernehmen.”

“Soll mir recht sein.”

Die beiden Männer gehen zum Heck des Trucks und klettern auf die Ladefläche. An deren Ende stehen nebeneinander die Transportbehälter fest verzurrt, aber leicht zugänglich. Die Deckel zieren gelb-schwarze Laser-Warnsymbole. Der Fahrer öffnet eine Kiste nach der anderen und Rotgerber kontrolliert die wohlverpackten Geräte anhand seiner Unterlagen. Den vorderen Teil des Laderaums füllt ein Container aus, den die beiden nicht beachten.

“Alles exakt, wie es sein soll”, resümiert Rotgerber eine halbe Stunde später. Der Fahrer nickt, beginnt die Behältnisse wieder zu schließen, und Rotgerber versiegelt sie anschließend mittels Draht und Plombe. Nach einem letzten Blick auf die Ladung klettern beide auf das Deck hinunter.

“Ich kontrolliere kurz vor dem Auslaufen noch einmal die Sendung”, erklärt Rotgerber dem Fahrer, der sein Gepäck aus dem Fahrerhaus holt.

“Meinetwegen. Hinten ist ja offen. Kommen Sie in Klaipeda mit zum Kunden?”

“Ja. Bei drei Millionen Versicherungssumme muss ich die Fracht persönlich beim Empfänger abliefern.”

Der Fahrer nickt erneut. “Soll mir recht sein. Ich erwarte Sie während des Anlegens hier am Wagen. Ich mach jetzt Feierabend.” Er tippt den Zeigefinger an den Schirm seines Käppis und verschwindet in Richtung Aufbauten.

Rotgerber sieht ein letztes Mal auf die Ladefläche des Trucks und läuft dann auch zum Schott, das in das Deckshaus führt.

 

Auf Deck 8 liegen die Kabinen der gehobenen Preisklasse in einem abgeschlossenen Bereich, den die Passagiere mit ihrer Bordkarte öffnen können. Gleich am Eingang hängt ein Automat, der Getränke und Snacks enthält. Scheinbar in eine Plauderei vertieft stehen hier eine junge Frau und ein älterer Mann beieinander.

Auf einmal klingelt das Handy des Alten, das er in der Hand hält. Sein Blick senkt sich auf das Display. “Er kommt.”

Die Frau sieht ihn fragend an und deutet den Gang hinunter. “Da lang und am Ende rechts?”

“Genau.” Zwei tiefe Falten, die von der Nase zum Mund verlaufen, geben dem Gesicht des Alten einen ernsten Zug. “Rotgerber bewohnt die 873, gleich gegenüber Ihrer Kabine.”

“Ist gut.” Zögerlich geht die Frau los.

“Machen Sie sich keine Sorgen”, gibt ihr der Alte mit auf den Weg. “Rotgerber wird Sie anhimmeln. Er kennt alle Ihre Bücher.”

Die Frau nickt.

“Intimitäten werden nicht notwendig sein. Halten Sie ihn die nächste Stunde vom Fahrzeugdeck fern und verheißen Sie ihm einen netten Abend.”

“Okay.”

Die Frau verschwindet an der nächsten Ecke des Gangs. Wenige Meter von ihrer Kabine entfernt trifft sie auf Rotgerber.

Der scheint überrascht. “Frau Steigleder?”

Die Frau lächelt und fragt nach dem Weg zum Ausgang, sie verlaufe sich stets aufs Neue, wolle eigentlich nur in der Bar einen Kaffee trinken.

Rotgerber erwacht aus seiner Überraschungsstarre und bietet an, sie dorthin zu begleiten. Er müsse lediglich sein Gepäck abstellen. Mit zitternden Händen öffnet er die Tür, wirft Reisetasche und Kollegmappe in den winzigen Korridor dahinter und schließt wieder ab. Gemeinsam verlassen die beiden den Kabinentrakt und steigen ein Deck tiefer.

Der Alte registriert wohlwollend die rege Unterhaltung zwischen Rotgerber und der Autorin. Als sie das Bordcafé betreten, bleibt er zurück, drückt auf dem Handy eine Taste, spricht einige Worte, geht währenddessen auf den Ausgang zu und verlässt das Schiff.

 

Aus einer dunklen Ecke des Fahrzeugdecks lösen sich drei Männer und steuern auf den Lastzug zu, auf dem Rotgerber vorhin die Fracht übernommen und verplombt hat. Dort angekommen klettern zwei von ihnen auf die Ladefläche, während der dritte unten stehen bleibt und die Umgebung beobachtet. Die beiden auf dem Laster öffnen den Container, den Rotgerber und der Fahrer nicht beachtet haben. Zum Vorschein kommen zahlreiche Holzkisten - alle mit der Aufschrift: Danger! Explosive!. Im nächsten Moment schneiden sie den Plombendraht der sechs Frachtkisten durch und entfernen die Sicherungen. Behände tauschen sie die Ladungen des Containers mit denen in den Frachtkisten aus. Nach getaner Arbeit fädeln sie wieder die Plombendrähte ein, knüpfen die zuvor getrennten Enden zusammen und verstecken die schadhaften Stellen hinter den Laschen der Verschlüsse. Schnell springen sie von der Ladefläche auf das Deck und verschwinden.

Zehn Minuten später nähert sich ein kräftiger Bursche mit struppigen Haaren und einem Dreitagebart dem bewussten Brummi. Mit dem sonnengegerbten Gesicht und in seinem orangefarbenen Ölzeug ähnelt er einem Besatzungsangehörigen. Er scheint die Verzurrung zu kontrollieren, kriecht dann aber unter die Bodenwanne gleich neben den Vorderrädern und befestigt am Fahrgestell ein schwarzes Päckchen in der Größe eines Schuhkartons.
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