Leseprobe
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Leseprobe “Neptunopfer”; Gmeiner-Verlag; Februar 2011

Dagmars Arme umschlossen ihre angezogenen Beine. Sie hockte auf dem Bett und starrte verärgert zum Fernseher. Der Hollywoodschinken, den das Bordfernsehen gerade sendete, lenkte Dagmar kaum ab; die Handlung blieb ihr unbegreiflich, und die Dialoge empfand sie als albernes Gewäsch. Die Uhr zeigte bereits Viertel nach zwölf, und von Ronald fehlte noch immer jede Spur. Was hatte er mit diesem Gronau so lange zu besprechen?

In der Sauna hatte sich Ronald wortkarg und abwesend gezeigt. Sosehr er auch widersprach, Dagmar schob seine missliche Laune auf das bevorstehende Treffen mit diesem Beamten. Ihrer Bitte, den Kerl einfach zu ignorieren und den Urlaub zu genießen, war Ronald ausgewichen – Gronau sei wichtig und ein Gespräch von wenigen Minuten bedeute nun wirklich keinen Weltuntergang. Dagmars Fragen nach unerwarteten Schwierigkeiten bei der Schulgründung hatte er ignoriert. Im Gegenzug war sie aufgestanden und hatte grußlos die Sauna verlassen. Jetzt ärgerte Dagmar ihre alberne Reaktion. Wie ein pubertierender Teenager hatte sie reagiert. Ronald war seitdem nicht wieder aufgetaucht. Sie trank einen Schluck Orangensaft.

Die Kabinentür klapperte hinter dem Vorhang, der den Wohntrakt samt Eingang vom Schlafbereich trennte. Das musste Ronald sein. Er kam herein. Sein Gesicht zeigte überdeutlich Spuren von Müdigkeit und Erschöpfung. Die Sorgenfalten auf der Stirn zeugten von seinem Gemütszustand.

“Da bin ich.” Ronald kniete neben ihrem Bett nieder. Den Kuss hauchte er ihr kaum spürbar auf die Wange. “Entschuldige bitte. Aber es ging nicht schneller.” Er warf sein Jackett auf den kleinen Tisch und verschwand im Bad.

Unruhig vor Sorge richtete Dagmar den Oberkörper auf. Im Bad rauschte der Wasserhahn. Schließlich kam Ronald zurück, mit einem Handtuch über der Schulter. In seinen krausen Haaren glitzerten Wassertropfen. Das Grau an seinen Schläfen schimmerte silbern. Die braunen Augen, in denen ansonsten der Schalk glänzte, blickten traurig.

“Was ist los?”

Ronald winkte ab. “Lohnt nicht darüber zu reden.” Er warf sich auf seine Hälfte des Doppelbetts, ohne die Schuhe auszuziehen, und sah zur Decke empor. “Ich ruhe mich zehn Minuten aus, danach gehen wir zum Mittagessen.”

“Was war los?” Dagmar schüttelte seine Schulter. “Bitte, sag etwas!”

“Nichts.” Ronald schaute sie kurz an und starrte erneut die Zimmerdecke an. “Gronau und ich sind fertig.” Er schwieg einige Sekunden. Wir können die nächsten Tage ungestört unseren Urlaub genießen.” Seine Stimme klang gebrochen, als kämpfe er gegen Tränen an. “Die nächsten Tage gehören dir. Versprochen.” Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sein Gesicht wirkte jetzt noch eckiger als sonst; die Nasenspitze thronte wie ein Felsvorsprung über dem Gesicht.

Dagmar rückte näher an ihn heran, bis sie seinen Atem auf ihrer Haut spürte. “Bitte sag mir, was vorgefallen ist.” Ich helfe dir, wenn ich kann.”

Er sah sie schweigend an. Nur ein Wimpernschlag und ihm würden dicke Tränen die Wangen hinunterrinnen.

“Ihr habt mehr als eine Stunde miteinander gesprochen und dann schleichst du wie ein geprügelter Hund hier herein. Was ist passiert?”

Ronald schüttelte den Kopf und wischte mit dem Handrücken über die Augen. “Wir waren nach zehn Minuten fertig. Jetzt komme ich von Corinna.”

Seine Worte sausten Stockhieben gleich auf Dagmar nieder: ‘JETZT – KOMME – ICH – VON – CORINNA.’ Corinna, immer wieder Corinna! Warum ziehst du nicht zu deiner Corinna? Die Frage hätte sie ihm gerne entgegengeschleudert, aber eine unsichtbare Schlinge schnürte ihr den Hals zu. Kraftlos sank Dagmar auf ihr Bett und wandte ihm den Rücken zu. Aus dem Fernseher tönte albernes Gelächter. Dagmar fühlte sich verspottet. Sie drückte ihre Hände auf die Ohren und kniff die Augen zu.

Eine kurze Ewigkeit später spürte sie ein Rütteln am Oberarm. “Dagmar? Dagmar?” Ganz leise drangen Ronalds Worte in ihr Bewusstsein.

“Komm, wir gehen essen.”

Unbändige Wut packte Dagmar. Sie warf den Oberkörper herum. Ronald schreckte zurück. “Wir gehen essen, äffte sie ihn nach. “Wartet deine Corinna etwa?”

“Dagmar, bitte. Was ist denn passiert? Ich habe zusammen mit Corinna nach einer Lösung für unser Problem gesucht. Sollte ich dich damit belasten?”

“Du verstehst überhaupt nichts!”

“Jetzt mach aber mal halblang. Was ist eigentlich in dich gefahren? Erst dein Gezicke in der Sauna und nun hier dieses Theater.”

Sie sprang auf und sah ihn wütend an. “Wenn dir mein Gezicke den Urlaub verdirbt, zieh doch zu deiner Corinna. Bestimmt heitert sie dich auf.” Voller Wut zerrte sie ihren Blouson vom Kleiderhaken, warf noch einen Blick in den Wandspiegel neben dem Eingang und stürmte auf den Gang. Die Tür fiel mit einem dumpfen Schlag ins Schloss.

°°°

Das Pooldeck glich einem Rummelplatz. Als wollten alle 300 Gäste der Taufe beiwohnen, drängten sich die Menschen auf jedem freien Quadratmeter, bis hinauf zum Mönchgut-Deck. Neptun thronte inmitten seines Gefolges, während der Kapitän den Schlüssel für das Befahren der Weltmeere entgegennahm. Die gut 50 Täuflinge standen im Hintergrund. Ronald lehnte wenige Meter abseits an der Reling und verfolgte die Zeremonie. Seine Arme umschlangen fest den nackten Oberkörper. Nur mit einer Badehose bekleidet, schien er zu frieren.

Nach der Flucht aus ihrer Kabine hatte Dagmar in der kleinen Bordbibliothek die Regale nach interessanten Büchern durchstöbert und war erst kurz vor halb zwei in die Suite zurückgekehrt. Ronald musste da schon zur Neptuntaufe gegangen sein. Noch den Türgriff in der Hand war ihr Blick auf den großen Wandspiegel neben dem Eingang gefallen. Ein riesiges Herz, mit Lippenstift gezeichnet, prangte auf der oberen Hälfte. Darunter standen die Worte ›Ich liebe Dich! Verzeih mir!‹ Ein angenehmes Prickeln in der Brust hatte sie verzaubert. Nach Sekunden der Besinnung war sie unter die Dusche gesprungen, hatte ihr gelbes Sommerkleid angezogen, ein wenig Make-up aufgelegt und war zum Pooldeck geeilt; allerdings zu spät. Bereits im Musiksalon, durch den man zum Ort des Spektakels hinausgelangte, hatten die Menschen dicht gedrängt gestanden. Dagmar hatte einen neuen Platz suchen müssen. Erst auf dem Mönchgut-Deck, zwei Etagen oberhalb des Schauspiels und meilenweit vom Geschehen entfernt, hatte sie eine Lücke zwischen all den Schaulustigen ergattert.

Die Zeremonie zog sich in die Länge – immer wieder prosteten Kapitän und Neptun einander zu und setzten zum nächsten Trinkspruch an. Ronald stand unverändert an der Reling und schien Schutz vor dem Wind zu suchen. Die Arme eng um den Oberkörper gelegt, trat er von einem Bein auf das andere. Da kam Corinna zu ihm und hängte ein Handtuch über seine Schultern. Dagmar versetzte die Geste einen Stich ins Herz. Sie hätte jetzt da unten an Ronalds Seite sein müssen. Eifersüchtig verfolgte sie die beiden, die angeregt miteinander sprachen. Corinna hob sich augenfällig von den umstehenden Gästen in Badesachen ab: Sie trug ein weinrotes Kostüm und hochhackige Riemchensandalen, als wäre sie zu einer Poolparty eingeladen. Dagmar schmunzelte. Wenn Neptuns Büttel sie packen und in ihrem Aufzug taufen würden, die unzähligen Fotoapparate und Videokameras bekämen ein mordsmäßiges Motiv geboten.

Ein Tusch unterbrach Dagmars Gedanken. Das Vorgeplänkel zur Taufe schien vorüber zu sein; die Täuflinge rückten vor, und die Gehilfen des Meeresgottes richteten ihre Folterinstrumente. Nur Ronald und Corinna standen ungerührt an der Seite, weiterhin in ihr Gespräch vertieft. Ronald dürfte damit einer der Letzten sein, die Neptun verarztete. So eröffnete sich für Dagmar gegebenenfalls die Chance, Ronald am Pool zu überraschen, wenn am Ende der Zeremonie die Leute auseinander liefen. Sie suchte nach einer Möglichkeit, an den Schauplatz des Trubels zu gelangen. Den kürzesten Weg über den äußeren Niedergang auf das Pooldeck blockierte eine unüberwindbare Mauer aus Schaulustigen. Ihr blieb lediglich die Möglichkeit, durch den Panoramaklub und über die große Treppe im Inneren der Decksaufbauten nach unten zu gelangen.

Bevor Dagmar aufbrach, warf sie noch einen Blick auf das Spektakel. Corinna tätschelte Ronald gerade die Schulter, lachte herzhaft auf und drängte sich am Rande der Reling in Richtung Musiksalon. Dein Kostüm wird ganz schön leiden, frohlockte Dagmar und zwängte ihren Körper rückwärts durch die Menschenmasse. Dabei trat sie gelegentlich auf Füße, erntete vorwurfsvolle Blicke und missbilligende Flüche, bekam Ellenbogen in die Seite gerammt und näherte sich langsam dem Eingang des Panoramaklubs. Endlich riss das Gedränge auf. Dagmar durchquerte den Klubraum, hastete den Verbindungsgang zum Vestibül entlang, am geschlossenen Studio des Bordfotografen vorbei, stürmte ins Treppenhaus und prallte dort auf eine Frau.

“Dagmar?” Corinna stand vor ihr. “So in Eile?”

“Ich will runter zur Neptuntaufe – Ronald überraschen.”

Ein Lächeln huschte über Corinnas Gesicht. “Habt ihr euch wieder versöhnt? Das freut mich.”

“Du weißt davon?”

“Als du vorhin beim Mittagessen fehltest, habe ich Ronald gelöchert, bis er alles erzählt hat. Entschuldige, in mir steckt eine neugierige Natur.”

Blöde Kuh, schoss es Dagmar durch den Kopf, musst du deine Nase überall reinstecken? Jetzt blieb allerdings keine Zeit fr Diskussionen. “Du, ich muss runter”, sagte sie und zwängte sich an Corinna vorbei.

“Ich bin auch in Eile. Im Panoramaklub wartet ein Filmproduzent auf mich.”

Dagmar lächelte kurz und hastete dann die Treppe hinunter. Zwei Decks tiefer lief sie in den Musiksalon, um von hier auf das Pooldeck zu gelangen. An den beiden Ausgängen herrschte auch ein solches Gedränge wie oben. Dagmar stieg am Rande des Menschenauflaufs einfach auf einen Tisch. Die verglaste Rückwand ermöglichte ihr einen Blick auf das bunte Treiben draußen, das von lautem Gejohle und unablässig aufbrandendem Applaus begleitet wurde. Die ersten Täuflinge schwammen bereits im Pool, der letzten Station ihres Leidenswegs durch die Folterstationen, die Neptuns Gefolge bereithielten. Ronald stand inzwischen allein am Ende der Warteschlange und schien mit stoischer Ruhe seinem Schicksal entgegenzusehen. Bis ihn die Marter ereilte, vergingen bestimmt noch 20 Minuten.

Dagmar sprang vom Tisch, überlegte kurz, stürmte los und versuchte über verschiedene Wege auf das Außendeck zu gelangen. Die Zeit verstrich und sie irrte vergebens über das Schiff – überall blockierten Menschenmassen die Zugänge. Schließlich gab sie ihre unnützen Versuche auf, lief in den Musiksalon zurück, fasste sich ein Herz und nahm den Kampf auf. Endlich erreichte sie den Außenbereich. Im Pool brodelte das Wasser, als koche es – unzählige Leute planschten um die Wette. Dagmar sah zu Ronald, den jetzt einer der Büttel auf einen Stuhl zwang, ihm Gesicht und Nacken einseifte und den Schaum zu guter Letzt mit einem riesigen Messer abschabte. Schon packten ihn zwei andere Kerle, hielten seinen Kopf und flößten ihm eine Flüssigkeit ein. Ronald wehrte sich, wand den Oberkörper und würgte. Aber er saß in der menschlichen Schraubzwinge gefangen und musste schlucken, immer nur schlucken.

Ihr erstickt ihn ja, wollte Dagmar rufen, doch das Geschrei um sie herum riss ihre Worte wie ein Orkan davon. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und drängte nach vorn – schier unüberwindliche fünf Meter trennten sie noch vom Schauplatz. Von einer stämmigen Nixe geschubst, taumelte Ronald zum Pool. Am Rand hielt er inne, beugte den Oberkörper vor und sprang ins Wasser. Dagmar standen die Tränen in den Augen. Wenn er gleich wieder auftauchte, wollte sie bei ihm sein und einen Kuss schenken. Mit Wut im Bauch drückte sie ihre Ellenbogen in die Umstehenden und drängte voran.

Plötzlich kreischte eine Frau in der Menge, ein Schrei von der anderen Seite folgte, dann ein zweiter, ein dritter und schließlich deckte ein Teppich aus Rufen, Wimmern und Johlen das gesamte Deck zu. Sekunden später rückten die Menschen auseinander, weg vom Pool, weg von Neptuns Gefolge, das innehielt und auf den Boden starrte. Verzweifelt suchte Dagmar in dem Chaos nach Halt und klammerte sich an der Reling fest. Ganz langsam ließ das Gedränge nach. Das Schreien wich einem vagen Gemurmel, so als würden Gerüchte über den Köpfen schwirren. Eine Schneise nach vorn war jetzt frei. Dagmar trat zu den Leuten, die sich wie an einer unsichtbaren Absperrung um den Pool aufreihten. Wo steckte Ronald? Bestimmt wusste er, was passiert war. Dagmar blinzelte an den vor ihr Stehenden vorbei. Auf dem Beckenrand lag ein lebloser Körper und ein Mann in Uniform beugte sich über ihn. Der Kapitän stand neben den beiden. Dagmar rückte näher und hielt mitten in der Bewegung inne. Ihr drohten die Beine zu versagen. Sie presste die Luft in ihre Lunge und zwang sich weiter nach vorn. Der leblose Körper auf den Planken trug dieselbe Badehose wie Ronald … es war Ronalds Badehose … der leblose Körper auf dem Boden war Ronald.

Der kniende Uniformierte richtete seinen Blick auf den Kapitän und schüttelte den Kopf. “Da kommt jede Hilfe zu spät.”